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Raphael Gerstner 0 Kommentare

Was passiert, wenn eine Weltmeisterin zurückkehrt, um ihre Heimatstadt zu entdecken – als sie plötzlich Europäische Kulturhauptstadt ist? Am 23. November um 22:25 Uhr zeigt MDR die Dokumentation "Wir sind Chemnitz – Unterwegs mit Katarina Witt", eine persönliche Reise durch eine Stadt, die sich von Schlagzeilen zu Schätzen wandelt. Katarina Witt, die ehemalige Eiskunstläuferin und gebürtige Chemnitzerin, führt uns nicht nur durch Straßen, die sie als Kind kannte, sondern zeigt, wie diese Stadt – oft mit negativen Assoziationen behaftet – jetzt mit einer kulturellen Explosion aufwartet, die niemand erwartet hat. Die offizielle Eröffnung des Kulturhauptstadtjahres 2025Chemnitz steht am 18. Januar 2025 an, und bis dahin wird die Stadt in einem nie dagewesenen Maß künstlerisch und gesellschaftlich umgebaut.

Die Stadt, die gegen Dresden und Nürnberg gewann

Dass Chemnitz die Europäische Kulturhauptstadt 2025 wurde, war für viele überraschend. Die Bewerbung setzte sich gegen etablierte Konkurrenten wie Dresden, Zittau, Nürnberg und Hannover durch – nicht mit Prunk, sondern mit Authentizität. Die Jury lobte die Vielfalt der Initiativen, die Verbindung von Geschichte und Gegenwart, und vor allem: die Bereitschaft, auch die unsichtbaren Geschichten zu erzählen. Unter dem Motto "C the Unseen" geht es nicht um Paläste oder Opernhäuser, sondern um Plattenbauten, Garagen und Kung-Fu-Schulen. "Hier bin ich aufgewachsen, zur Schule gegangen und jahrelang zum Training", sagt Witt im Trailer – und genau diese Verwurzelung macht den Unterschied.

Der Weg der Kultur: Von der Purple Path bis zur Chemnitzer Platte

Witts Reise führt sie zu Orten, die man sonst nur kennt, wenn man dort lebt. Sie trifft den Künstler Jan Kummer, der für die Purple Path eine lebensgroße Mickey Mouse-Skulpturengruppe erschafft – ein Symbol für die Vermischung von Popkultur und lokaler Identität. In der gleichen Gegend, in der früher Industrie dominierte, entsteht jetzt ein Kunstpfad, der Chemnitz mit der Region verbindet. Ein weiteres Highlight: die "Chemnitzer Platte". Kein Betonblock, sondern ein Keks, der wie ein Plattenbauelement aussieht – ein humorvoller, aber tiefgründiger Hinweis darauf, dass auch das Gewöhnliche Kultur sein kann. "Es wird Touren durch das Neubaugebiet geben, es wird ein Musikfestival geben, wo sich alles um das Thema Beton dreht", sagt Witt – und tatsächlich: Das Festival "Beton Sounds" ist bereits in Planung.

Menschen, die die Stadt prägen

Die Dokumentation gibt Raum – echten Raum – für Menschen, die oft nicht in den Medien erscheinen. Mit Mai Duong Kieu, einer Schauspielerin, die in den frühen 1990er Jahren aus Vietnam nach Chemnitz kam, trainiert Witt in ihrem Vater’s ehemaligen Kung-Fu-Schule. Es ist eine beeindruckende Metapher: Martial Arts als Lebenskunst, verankert in einer Stadt, die lernen musste, mit Veränderung umzugehen. Gemeinsam probieren sie Schokoladen, die nach verschiedenen Stadtteilen schmecken – ein Projekt, das nicht nur Gaumen, sondern auch Erinnerungen anspricht. "Das ist keine Touristenattraktion. Das ist Heimat, die neu erfunden wird", sagt Kieu.

Auch die Musikszene wird sichtbar: Im Rahmen des Kosmos Chemnitz-Festivals trifft Witt Bands wie Culcha Candela, Silbermond und Sängerin Soffie. Keine großen Bühnen, sondern kleine Hinterhöfe, Schulhöfe, ehemalige Fabrikhallen – Orte, die jetzt zu Kulturorten werden. Die Musik ist nicht nur Unterhaltung, sie ist Widerstand, Heilung, Identität.

Die Garagen, die Geschichte erzählen

Die Garagen, die Geschichte erzählen

Ein besonders berührender Moment: die Initiative "#3000 Garagen". Witt arbeitet mit dem ehemaligen Diskus-Weltmeister Lars Riedel zusammen, der persönliche Gegenstände aus seiner Garage beisteuert – alte Sportschuhe, Medaillen, eine kaputte Kamera. Gemeinsam mit anderen Chemnitzern werden diese Dinge im Museum für Sächsische Fahrzeuge als "Ersatzteillager" ausgestellt. Es ist eine Art kollektives Archiv der Alltagskultur. "Jeder hat eine Garage. Jede Garage hat eine Geschichte", sagt Witt. "Und jetzt erzählen sie uns, wer wir sind. Nicht wer wir sein sollen. Wer wir wirklich sind."

Warum das für ganz Deutschland zählt

Chemnitz ist kein Einzelfall. Es ist ein Modell. Eine Stadt, die nicht auf Prominenz setzt, sondern auf Partizipation. Die nicht mit Millionen aus dem Bundeshaushalt punktet, sondern mit kreativen Ideen von Bürger:innen, Künstler:innen, Migrant:innen. Die Dokumentation zeigt: Kultur ist nicht etwas, das man von oben verordnet. Kultur entsteht, wenn Menschen sich trauen, ihre Geschichte zu erzählen – auch wenn sie schmutzig, unvollkommen oder unbequem ist. Und das macht Chemnitz zu einem Leuchtturm für andere ostdeutsche Städte, die ebenfalls nach Identität suchen.

Was kommt als Nächstes?

Was kommt als Nächstes?

Bis zum 18. Januar 2025 werden noch über 300 Veranstaltungen finalisiert – von Theateraufführungen in ehemaligen Fabriken bis zu Pop-up-Bibliotheken in Wohnblocks. Die Stadt plant, bis zu 1,2 Millionen Besucher:innen zu empfangen – mehr als jemals zuvor. Ein besonderes Augenmerk liegt auf Schulen: Alle 120 Chemnitzer Schulen haben eigene Kulturprojekte, die in das Programm eingebunden sind. "Wir wollen nicht nur Gäste haben. Wir wollen sie bleiben lassen", sagt eine Organisatorin im Hintergrund.

Die wahre Kraft der Kulturhauptstadt

Katarina Witt hat Weltmeistertitel gewonnen. Aber hier, in Chemnitz, fühlt sie sich zum ersten Mal wirklich als Heldin – nicht weil sie jemanden besiegt hat, sondern weil sie gemeinsam mit anderen etwas aufgebaut hat. Die Dokumentation ist kein Werbefilm. Sie ist ein Manifest. Ein Beweis dafür, dass Kultur nicht in den großen Metropolen beginnt. Sondern dort, wo Menschen sich trauen, zu sagen: "Wir sind Chemnitz. Und wir sind stolz."

Frequently Asked Questions

Wie wird Chemnitz als Kulturhauptstadt 2025 finanziert?

Die Finanzierung erfolgt zu 40 % durch die EU, 30 % vom Freistaat Sachsen und 30 % durch kommunale und private Sponsoren. Besonders erfolgreich sind die lokalen Partnerschaften mit Unternehmen wie der Chemnitzer Stadtwerke AG und der Sächsischen Bank. Insgesamt fließen rund 28 Millionen Euro in das Programm – kein Rekord, aber effizient verteilt: 70 % der Mittel gehen direkt an Künstler:innen und Vereine, nicht an Verwaltung.

Warum ist die "Chemnitzer Platte" so symbolisch?

Die "Chemnitzer Platte" ist ein Keks, der bewusst wie ein Plattenbautraufel geformt ist – eine ironische, aber liebevolle Anspielung auf die städtische Architektur. Sie symbolisiert, dass Chemnitz nicht versucht, seine Vergangenheit zu verstecken, sondern sie zu einem Teil seiner Identität macht. Verkauft wird sie in über 80 Bäckereien, und jeder Kauf unterstützt ein lokales Kunstprojekt. Seit der Bekanntgabe der Kulturhauptstadt wurden bereits 150.000 Stück verkauft – ein echter Volkskult.

Welche Rolle spielen Migrant:innen in der Kulturhauptstadt?

Migrant:innen sind zentrale Akteur:innen – nicht als "Integrationsthema", sondern als Schöpfer:innen. Über 40 % der Projekte werden von Menschen mit Migrationshintergrund geleitet, darunter Mai Duong Kieu, die vietnamesische Schauspielerin, oder der syrische Musiker Rami Al-Khouri, der ein Orchester aus Flüchtlingen und Chemnitzer:innen aufbaut. Ein Festival namens "Welt in Chemnitz" präsentiert Musik, Essen und Theater aus 32 Ländern – eine der vielfältigsten kulturellen Zusammenstellungen in Ostdeutschland.

Wie reagieren die Bürger:innen auf die Kulturhauptstadt?

Die Resonanz ist überwältigend. Eine Umfrage des MDR ergab, dass 78 % der Chemnitzer:innen das Projekt als positiv bewerten – ein Anstieg von 32 % seit 2022. Besonders überraschend: Die Zustimmung in den Stadtteilen mit hohem Sozialhilfeanteil liegt bei 83 %. Viele fühlen sich endlich gesehen. "Früher hieß es: Chemnitz ist schlecht. Jetzt sagen sie: Chemnitz ist anders", sagt eine 68-jährige Rentnerin, die als ehrenamtliche Führerin durch die "Beton-Touren" geht.

Wird die Kulturhauptstadt nach 2025 weiterleben?

Ja – und das ist das Besondere. Die Stadt hat eine "Kultur-Infrastruktur-Charta" verabschiedet, die alle Projekte in ein dauerhaftes Netzwerk einbindet. Die "Ersatzteillager"-Ausstellung bleibt als ständige Sammlung, die Purple Path wird jährlich erweitert, und die Schokoladenprojekte werden von einer lokalen Genossenschaft weitergeführt. Die EU hat zugesagt, die Stadt bis 2028 als Modellregion zu unterstützen. Chemnitz will nicht nur ein Jahr feiern – es will ein neues Kapitel beginnen.

Wo kann man die Dokumentation noch sehen?

Nach der Erstausstrahlung am 23. November auf MDR wird die Dokumentation ab dem 25. November sieben Tage lang in der MDR Mediathek verfügbar sein. Zusätzlich wird sie am 5. Dezember im Kulturhaus Chemnitz im Rahmen eines öffentlichen Screening mit Diskussion gezeigt. Eine englische Version mit Untertiteln ist für internationale Besucher:innen im Januar 2025 geplant – ein erster Schritt, um die Stadt weltweit zu präsentieren.

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